Teilnahmebescheinigung – der Umgang mit „verordneter Selbsthilfe“

Betroffene finden den Weg in eine Selbsthilfegruppe in der Regel durch eigenen Antrieb oder auch auf Empfehlung von einer anderen Person. Der Grundgedanke ist hierbei, dass die betroffene Person freiwillig und aus eigenen Stücken diese Entscheidung trifft. Denn in der Selbsthilfegruppe bringen Betroffene sich ein, öffnen sich den anderen, um von sich und ihren Problemen zu sprechen und nehmen aktiv am Gruppengeschehen teil. Eine solche Öffnung kann nur erfolgen, wenn die Selbsthilfegruppe keine Pflicht ist.

Immer einmal wieder kommt es leider vor, dass eine Stelle im Versorgungssystem einer betroffenen Person die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe „verordnet“. Eine Teilnahmebescheinigung wird dann vorausgesetzt um beispielsweise eine Magen-Operation bei Adipositas oder bei einer Alkoholsucht die Rückgabe des Führerscheins bewilligt zu bekommen. Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe wird zur Auflage gemacht (vgl. Beier 2018).

Eine solche Pflicht der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe widerspricht grundlegend den Grundgedanken der Selbsthilfe: Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und Austausch auf Augenhöhe.

Der Grundgedanke der Selbsthilfe geht verloren

Wenn eine Person nicht aus eigenem Antrieb an einer Selbsthilfegruppe teilnimmt, werden die Strukturen, Ziele und das Selbstverständnis dieser freiwilligen Zusammenschlüsse erheblich gefährdet und die Grundlage helfender Wirkung der Gruppenarbeit genommen. Bestehende Selbsthilfegruppen werden gefährdet und im Interesse Dritter instrumentalisiert.
Beispielsweise kann eine „verordnete“ Selbsthilfe dazu führen, dass die betroffene Person in der Selbsthilfegruppe verbleibt, obwohl sich die Person dort nicht wohlfühlt oder keine Motivation verspürt gemeinschaftliche Selbsthilfe wirklich zu leben. Es können sich so Abwehrreaktionen gegen die Selbsthilfegruppe oder andersherum bei den anderen Teilnehmenden entwickeln. Die „verordneten“ Betroffenen finden ihren Platz in der Gruppe nicht, wirken als Störfaktor. Damit ist die Existenz einer Selbsthilfegruppe gefährdet und die Entwicklung der Gruppe wird gestört.
Weiter wird das Prinzip der Selbsthilfe „Austausch auf Augenhöhe“ genommen, wenn einzelne Gruppenmitglieder über die Teilnahme von anderen Bescheinigungen ausstellen und somit auf das Podest der „Kontrolleure“ gehoben werden. Die Selbsthilfegruppe ist keine Maßnahme, kein Medikament was verschrieben oder verordnet werden kann (vgl. Greiwe 1993, 1994; Jakob 2014).

Der Umgang mit „verordneter Selbsthilfe“

Es müsste zunächst die betroffene Selbsthilfegruppe gefragt werden, ob sie damit einverstanden ist einen „Pflicht-Teilnehmenden“ aufzunehmen. Auch ist die Frage, ob ein Gruppenmitglied eine solche Bescheinigung ausstellen kann oder möchte, wenn die Person beispielsweise anonym bleiben möchte. Es kann auch vorkommen, dass die Gruppe sich erpresst fühlt, wenn die Person mit der „verordneten“ Selbsthilfe die Folgen einer Nichtausstellung skizziert. In jedem Fall sollte offen in der Gruppe gefragt werden, ob „Pflicht-Teilnehmende“ gewünscht sind und im besten Fall eine andere Lösung mit dem Versorgungsdienstleister gefunden werden, der eine solche Teilnahmebescheinigung eingefordert hat (vgl. Beier 2018, Greiwe 1993, 1994).

Wichtig ist: Selbsthilfekontaktstellen fördern selbstverständlich die Zusammenarbeit zwischen Selbsthilfe und Fachleuten aus Versorgungseinrichtungen. Dennoch müssen die Grenzen der Selbsthilfe respektiert werden, da sie nur so ihre positiven Wirkungen entfalten kann.

Quellennachweise

Beier, Niclas: Selbsthilfe als Pflicht? Teilnahmebescheinigung in Selbsthilfegruppen. In: NAKOS INFO 119, Dezember 2018, S. 9-10
https://www.nakos.de/data/Fachpublikationen/2018/NAKOS-INFO-119.pdf

Greiwe, Andreas: Verordnete Selbsthilfe?! In: NAKOS INFO 35, Juni 1993, S. 4-7

Greiwe, Andreas: Wenn Selbsthilfe „verordnet“ wird. In: NAKOS INFO 38, März 1994, S. 12-14

Selbsthilfezentrum München (Hrsg.); Jakob, Kristina: „Verordnete Selbsthilfe“ – so bitte nicht!? In: einBlick – das Münchner Selbsthilfejournal, Ausgabe 04, Dezember 2014, S. 17-19
https://www.shz-muenchen.de/materialien/einblick-muenchner-selbsthilfejournal