Neue Austauschformate

Die klassische Selbsthilfeunterstützung befindet sich im Wandel. Mitarbeitende von Selbsthilfekontaktstellen gehen neue Wege und erproben andere Zugänge, um Interessierte auf gemeinschaftliche Selbsthilfe hinzuweisen.

Aber auch die Formate gemeinschaftlicher Selbsthilfe werden vielfältiger. Die bewährte Form des Erfahrungsaustausches in festen Gruppen, die sich regelmäßig treffen, wird zunehmend ergänzt von offeneren, weniger verbindlichen Austauschformaten, die sich mehr an aktuellen Lebenssituationen orientierten.

Vor welchen Herausforderungen steht die Selbsthilfe-Unterstützungsarbeit heute? Welche Veränderungen zeichnen sich ab und wie begegnen Fachkräfte diesen Entwicklungen?

Aufgabenzuwachs und Veränderungen im Aufgabenspektrum

Die Selbsthilfe-Unterstützungsarbeit ist in den letzten Jahren komplexer geworden. Die Beratung und der Clearing-Prozess ist oft sehr zeitintensiv, da sich Interessierte mit zunehmend spezielleren Fragestellungen an die Kontaktstellen wenden und die bloße Vermittlung in eine bestehende Gruppe oder ein Verweis auf professionelle Versorgungsangebote nicht ausreichen. Damit einhergehend muss das Wissen über gesundheitliche und soziale Problemlagen sowie über bestehende Versorgungsangebote fortlaufend aktualisiert und erweitert werden, um auf den veränderten Beratungsbedarf reagieren zu können.

Hinzu kommen Vertretungsaufgaben in Gremien und Arbeitskreisen und der Aufbau und die Pflege von örtlichen Kooperationen. Der Aufwand zur Dokumentation und Qualitätsentwicklung der Kontaktstellenarbeit steigt zunehmend.

Selbsthilfekontaktstellen benötigen mehr Personalkapazität für einen Mix von reaktiver (KOMM-Struktur) und aktiver Arbeitshaltung (aufsuchend/aktivierend). Mehr Ressourcen müssen bereit gestellt werden, um mehr themen- und zielgruppenspezifische Angebote zu entwickeln. Die Zugänge zur Zielgruppe müssen dahingehend angepasst und neu gedacht werden (vgl. Thiel / Hundertmark-Mayser 2017).

Neue Formen, alte Bilder?

Der Sprachgebrauch von (meist jüngeren) Selbsthilfeaktiven verändert sich ebenfalls. Mitarbeitende beobachten, dass der Begriff „Selbsthilfegruppe“ zuweilen negativ besetzt ist. Teilnehmende wählen andere Bezeichnungen wie Freundeskreis, Stammtisch, Treffpunkt, Peergroup oder Community (Belke / Kaiser 2014). Das Selbsthilfeengagement junger Menschen findet weniger in Selbsthilfekontaktstellen oder bei Selbsthilfevereinigungen statt, sondern verlagert sich auf andere, alltagsnähere Orte wie zum Beispiel Cafés oder Parks. Oftmals werden die Themen durch gemeinsame, aktivierende und ressourcenorientierte Aktivitäten wie Theaterspielen oder Musikmachen bearbeitet (Walther 2017). Die Aktiven nutzen mehr digitale Möglichkeiten.

Selbsthilfekontaktstellen haben darauf reagiert, dass Interessierte zwar Gleichbetroffene suchen, aber nicht (sofort) an einer Selbsthilfegruppe teilnehmen oder gar eine neue Gruppe gründen wollen. Dazu wurden neue Formate entwickelt, wie zum Beispiel Selbsthilfecafés, die zunächst weniger verbindlich erscheinen und ein Reinschnuppern in die Selbsthilfe ermöglichen.

Digitalisierungsschub durch die COVID-19-Pandemie

Die Pandemie hat die bereits angestoßenen Entwicklungen weiter verstärkt. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen und der Abstandsregeln haben Selbsthilfeaktive und Kontaktstellenmitarbeitende digitale Formate in den Blick genommen. Alternative Umgebungen wie Schrebergärten oder Parks dienen als Treffpunkte, Videokonferenzen, Messengerdienste und speziell entwickelte APPs als Hilfsmittel, um miteinander in Kontakt zu bleiben.

Diese Entwicklung bringt Chancen mit sich. So können über Internetforen und soziale Medien andere Zielgruppen angesprochen und andere Zugänge zur Selbsthilfe ermöglicht werden. Gleichzeitig tauchen dabei neue Fragen auf: wie kann der Datenschutz konsequent garantiert und die Vertraulichkeit des Gruppenlebens gewährleistet werden? Was ist mit älteren Selbsthilfegruppenteilnehmenden, die über digitale Angebote nicht erreicht werden? Kann Gemeinschaft allein über digitale Formate zuverlässig und nachhaltig hergestellt werden?

Quellennachweise

Belke, Petra / Kaiser, Anne (KOSKON): Kurzbericht zur AG 4 „Selbsthilfe neue entdecken, Selbsthilfe neu erleben“ am 27.05.2014 in München, Jahrestagung 2014 der DAG SHG e.V.
https://www.dag-shg.de/data/Dokumentationen/2014/DAGSHG-Jahrestagung-14-AG4-Belke.pdf

Thiel, Wolfgang / Hundertmark-Mayser, Jutta: Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen in Deutschland: Fachliche und institutionelle Bedarfe zur weiteren Entwicklung eines wirkungsvollen Angebotes. In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (Hrsg.), Selbsthilfegruppenjahrbuch 2017. Gießen 2017, S. 94–104.
https://www.dag-shg.de/data/Fachpublikationen/2017/DAGSHG-Jahrbuch-2017-Thiel-et-al.pdf 

Walther, Miriam: Bunte Selbsthilfe. Junge Menschen sind oft kreativer bei der gegenseitigen Unterstützung. In: Blätter der Wohlfahrtspflege. 3/2017, Jahrgang 64, S.101-103.