Gesamttreffen als Form des Austauschs

Gesamttreffen dienen zu allererst dem Austausch der Erfahrungen von Selbsthilfegruppen und dem Kontakt von Interessierten. Sie sind aber auch eine Möglichkeit, um mit Fachleuten zusammenzuarbeiten, ohne die Selbstständigkeit der Gruppe zu beeinträchtigen. Ebenso können organisatorische Fragen besprochen und gemeinsame Aktivitäten geplant werden.

Demnach kann ein Gesamttreffen drei Funktionen haben:

  • Erfahrungen austauschen
  • Neue Mitglieder finden
  • Interessierte über die Arbeit und Vorgehensweise in Selbsthilfegruppen informieren

Gesamttreffen können zu aktuellen Themen wie „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ mit fachkundigen Referent*innen organisiert werden. Darüberhinaus können zahlreiche Gesundheitsselbsthilfegruppen angesprochen werden. Weitere Beispiele wären Gesamttreffen zu Suchterkrankungen oder auch zur Selbsthilfeförderung.

Typen von Gesamttreffen

Die idealtypische Form ist ein Gesamttreffen zu einem Thema oder Themenkreis, zum Beispiel Frauen mit Essstörungen oder Menschen nach Partnerverlust. Manchmal wird der Themenkreis auch erweitert, zum Beispiel Chronisch Erkrankte und Behinderte. Diese Treffen werden in der Praxis auch als Fachtreffen bezeichnet.
Eine themenspezifische Ausrichtung der Gesamttreffen schafft für die Öffentlichkeit und für Interessierte ein klares Angebot, aber ebenso eine eindeutige Erwartungshaltung. Die Homogenität ist groß, die Probleme der beteiligten Gruppen sind ähnlich. Das ermöglicht das Lernen unter Gleichbetroffenen und ist eine gute Voraussetzung für die Bildung neuer Selbsthilfegruppen und für die Kontinuität der Erfahrungsbildung. Erleichtert wird ein gemeinsames Handeln nach außen.

Eine zweite Form ist das themenübergreifende Gesamttreffen, zu dem sich Teilnehmende der unterschiedlichsten Selbsthilfegruppen und die verschiedensten Interessierten einer Stadt/Region zusammenfinden. Diese Form ist vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Bereich verbreitet, da es aufgrund der wenigen Selbsthilfegruppen kaum eine Möglichkeit zu themenspezifischen Gesamttreffen gibt.
Themenübergreifende Gesamttreffen sind immer dort angebracht, wo nicht genügend themenbezogene Gruppen zusammenkommen. Sie haben aber auch unabhängig von solchen praktischen Notwendigkeiten Vorzüge: Sie haben eine ausgesprochen niedrige Zugangsschwelle. Das erleichtert die Teilnahme für „Neue“: Niemand ist „falsch“, das heisst, jeder wird angenommen und aufgenommen. Die Chance der Auswahl für Selbsthilfegruppen, die „Neue“ suchen, und für „Neue“, die Anschluss an eine Selbsthilfegruppen suchen, ist größer als bei themenspezifischen Gesamttreffen. Dieser Typ von Gesamttreffen nimmt auch den in den letzten Jahren erkennbaren Trend zu mehr themenübergreifend arbeitenden Gruppen auf wie in der Jungen Selbsthilfe.

Funktionen von Gesamttreffen

Gesamttreffen bieten Selbsthilfegruppen einen Rahmen zum gleichberechtigten Erfahrungsaustausch. Ermöglicht wird eine Spiegelung des unmittelbaren Gruppengeschehens durch andere Selbsthilfegruppen und durch Außenstehende. Dadurch ergibt sich die Chance der kritischen Überprüfung der eigenen Gruppenarbeit. Gesamttreffen erweitern die Erfahrungen und die Ideen im Umgang mit Krisen in der Gruppenarbeit und — bei themenbezogenen Treffen — im Umgang mit dem Problem, das der Arbeit der Selbsthilfegruppe zugrunde liegt.

Gesamttreffen bieten bestehenden Selbsthilfegruppen die Möglichkeit, für ihre Gruppe neue Mitglieder zu finden, ohne dass der laufende Gruppenprozess gestört wird.

Interessierte erhalten in Gesamttreffen Informationen und einen Eindruck von der Arbeit und Vorgehensweise von Selbsthilfegruppen. Sie können das Selbsthilfegruppen-Milieu „erschnuppern“, ohne sich sofort für eine Teilnahme festlegen zu müssen.

Information und Beratung haben im Rahmen eines Gesamttreffens die Funktion, die Erwartungen von Interessierten zu klären und eine Entscheidung über eine Mitarbeit in einer bestimmten Selbsthilfegruppe oder zu einer Neugründung herbeizuführen. Gesamttreffen können somit spezielle Gründungstreffen ersetzen.

Gesamttreffen ermöglichen den Zugang zu bestehenden oder die Gründung neuer Selbsthilfegruppen.

Gesamttreffen erhöhen die Wahlmöglichkeiten von Interessierten und bestehenden Gruppen. Sie fördern somit eine „gelungene“ Gruppenzusammensetzung, was die Chancen für eine erfolgreiche Gruppenarbeit erhöht.

Themenspezifische Gesamttreffen werden manchmal auch zu einer ersten Problemberatung genutzt. Die Beratung wird nicht von einer Fachperson, sondern von Betroffenen für Betroffene durchgeführt.

Peer-Beratung

Gesamttreffen bieten die Möglichkeit zu organisatorischen Abstimmungen der Gruppen untereinander und zur Planung und Zusammenarbeit bei Aktionen, die über den unmittelbaren Gruppenrahmen hinausgehen, zum Beispiel die Durchführung von Selbsthilfetagen.

Gesamttreffen sind eine partnerschaftliche Form der Zusammenarbeit und des Austauschs mit Expert*innen sowie ein günstiger Rahmen für die Diskussion gemeinsamer Fragen mit Behörden- und Verbandsvertretern.

Organisation und Durchführung von Gesamttreffen

Die Vorbereitung und die Durchführung von Gesamttreffen bringen eine Reihe organisatorischer Aufgaben mit sich. Die Selbsthilfekontaktstelle organisiert den zeitlichen und organisatorischen Rahmen. Sie gewährleistet die Regelmäßigkeit der Treffen und sorgt für die Bekanntmachung. Interessierte und bestehende Selbsthilfegruppen werden von der Selbsthilfekontaktstelle fortlaufend über Gesamttreffen informiert und dazu eingeladen.

Wichtig sind die Regelmäßigkeit und der strukturierte Ablauf der Treffen. Durch die Regelmäßigkeit von Gesamttreffen ergeben sich für die begleitenden Mitarbeitenden der Selbsthilfekontaktstellen auf der organisatorischen Ebene Entlastungen und auf der Beratungsebene ein Gewinn an Beratungsqualität: Sie müssen mit Interessierten nicht immer ein umfangreiches Klärungsgespräch als Einzelgespräch führen, sondern haben beim Erstkontakt auch die Möglichkeit auf das Gesamttreffen hinzuweisen, wo Information, Kontakte und Selbstklärung als Gruppengeschehen stattfinden.

Bei der gesamten Organisation und Durchführung sollte auf eine klare Darstellung der moderierenden Rolle der Mitarbeitenden der Selbsthilfekontaktstelle geachtet werden.

Haltung und Moderation während der Durchführung

  • Im Besonderen ist eine wertschätzende Haltung gegenüber allen Teilnehmenden einzunehmen.
  • Eine Frage aus der Runde sollte vom Moderierenden nicht gleich beantwortet werden, auch wenn eine gute Antwort parat wäre. Die Frage sollte an alle Teilnehmenden zurückgegeben werden. Zum Beispiel „Das ist eine interessante Frage. Wir können ja mal hören, was die Anderen dazu meinen. Gibt es Erfahrungen damit in den Gruppen?“ oder „Wie würden Sie das vielleicht in Ihrer Gruppe in einem solchen Fall handhaben?“
  • Erst später könnte die moderierende Person aus dem eigenen professionellen Wissen ergänzen („Aus der Literatur ist bekannt, …“ oder „Von anderen Selbsthilfegruppen habe ich mal gehört, …“ oder „In der professionellen Gruppentherapie würde man vielleicht …“).
  • Es ist immer wieder beeindruckend, wie sich Teilnehmende aus Selbsthilfegruppen gegenseitig in Bezug auf ihre Arbeit unterstützen oder wie auch neue Interessierte mit einfachen Fragen den Austauschprozess anregen können („Wie läuft das eigentlich in den Gruppen?“). Das sollte hervorgehoben werden („Das sind doch gute Hinweise aus der Runde; dem ist nicht viel hinzuzufügen …“).
  • Wenn Teilnehmende Gesamttreffen durch lange oder sehr emotionale Beiträge belasten, ist es – durchaus im Sinne eines guten Austausches – nötig, diese Personen zu begrenzen.
  • Letztlich besteht die Kunst der Moderation darin, einen Balanceakt zu wagen, der zwischen Anregung der Teilnehmenden, Ergänzungen oder Vermitteln von Hintergrundinformationen und Begrenzungen des problembezogenen Gesprächs pendelt.
  • In Bezug auf die inhaltlichen Themen gilt es, als moderierende Person ebenfalls ein Gleichgewicht zu finden, die die Möglichkeiten und Chancen von Selbsthilfegruppen ebenso im Blick behält, wie die Probleme und Risiken. Die Informationsversorgung schließt Informationen und Hinweise auf andere Versorgungs- und Beratungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Beratungsstellen, ambulante oder stationäre Psychotherapie oder Ambulanzen an örtlichen Kliniken mit ein (Matzat / Meyer 2020).

Gesamttreffen — Ein idealtypischer Ablauf

Das Gesamttreffen wird in der Regel einmal im Monat, am selben Ort und während desselben festgesetzten Zeitraums für 90 oder 120 Minuten durchgeführt. Termin und Ablauf sind so leicht einzuprägen.

  • Eröffnung: Die Mitarbeitenden der Selbsthilfekontaktstelle begrüßen die Teilnehmenden, stellen sich und eventuell anwesende Expert*innen vor. Kurz erläutert werden die Funktionen des Gesamttreffens: Erfahrungsaustausch, Information und Kontaktmöglichkeit für „Neue“, Klärung gemeinsamer Fragen und Anliegen, vielleicht Planung und Organisation gemeinsamer Aktivitäten. Vorgestellt wird der zeitliche Ablauf, wobei jeder Funktion ein Zeitabschnitt gewidmet wird.
Wichtig ist es bei der Eröffnung klarzustellen, dass das Gesamttreffen keine normale Selbsthilfegruppensitzung ist, was gerade von „Neuen“ oft verwechselt wird.
  • Vorstellungsrunde: Alle Teilnehmenden stellen sich und ihre Erwartungen an das Treffen vor: „Bin ich ‚neu‘ oder Mitglied einer bestehenden Gruppe?”, „Warum bin ich heute gekommen?” Auf Wunsch können Teilnehmende selbstverständlich anonym bleiben.
  • Erfahrungsaustausch: Mitglieder bestehender Selbsthilfegruppen berichten über ihre Arbeit, über Probleme und Anliegen, die sie bewogen haben, zu dem Treffen zu kommen. Selbsthilfegruppen, die neue Mitglieder suchen, machen dies bekannt und nennen ihren Termin und Treffpunkt.
    Die Rolle der Mitarbeitenden der Selbsthilfekontaktstelle während dieser Phase ist sehr zurückhaltend. Die Person achtet darauf, dass dieser Teil des Treffens ausschließlich für den Erfahrungsaustausch der bestehenden Selbsthilfegruppen vorbehalten bleibt.
  • Interessen und Fragen der „Neuen“: Die „Neuen“ haben aus dem Erfahrungsaustausch bereits einen Eindruck von den verschiedenen Selbsthilfegruppen erhalten. Jetzt haben sie die Möglichkeit, ihre Probleme einzubringen, Fragen zu stellen und Unsicherheiten zu äußern. Sie können sich jetzt der Frage zuwenden, ob sie sich einer bestehenden Selbsthilfegruppe anschließen oder ob sie sich mit anderen „Neuen“ zu einer neuen Gruppe zusammentun wollen. Der Anschluss an eine bestehende Gruppe beziehungsweise die Gründung einer neuen erfolgt am besten unmittelbar nach dem Gesamttreffen.
  • Klärung gemeinsamer Fragen, Planung und Organisation von Aktivitäten: Sind in der Vorstellungsrunde solche Erwartungen eingebracht worden, haben die Mitarbeitenden der Selbsthilfekontaktstellen darauf zu achten, dass genügend Zeit dafür bleibt. Bei umfangreichen Fragestellungen, zum Beispiel bei der Vorbereitung eines Selbsthilfetages, bietet es sich an, spezielle Arbeitsgruppen zu bilden und Sondertermine einzurichten.
  • Informationsgespräch mit anwesenden Expert*innen: Die anwesenden Expert*innen stehen den Gruppenmitgliedern und den „Neuen“ mit ihrem Sachverstand zur Verfügung. Eine umfassende Thematisierung von Problemstellungen ist im Rahmen eines Gesamttreffens in aller Regel zeitlich aber nicht möglich. Das Gesamttreffen bietet sich eher dazu an, mit den Expert*innen eine eigenständige Informations- oder Vortragsveranstaltung zu erörtern und zu planen.
  • Ende des Gesamttreffens: Das Gesamttreffen wird von den Mitarbeitenden der Selbsthilfekontaktstelle pünktlich beendet. Die Teilnehmenden können den Raum weiter nutzen, um untereinander noch Absprachen zu treffen.
  • Nachbereitung des Gesamttreffens: Mitarbeitende der Selbsthilfekontaktstelle nehmen an einer Nachbereitung des Gesamttreffens teil, um andere Unterstützende und Selbsthilfegruppen darüber informieren zu können.

Quellennachweise

Matzat, Jürgen / Meyer, Friedhelm: Das Gesamttreffen. Ein Gießener Konzept zur Unterstützung von Gesprächsselbsthilfegruppen. In: DAG SHG – Deutsche Arbeitsgemeinschaften Selbsthilfegruppen e.V. (Hrsg.): Selbsthilfegruppenjahrbuch 2020. Gießen 2020, S. 100-111
https://www.dag-shg.de/service/jahrbuecher/2020/

NAKOS (Hrsg.): Selbsthilfe unterstützen. Fachliche Grundlagen für die Arbeit in Selbsthilfekontaktstellen und anderen Unterstützungseinrichtungen. NAKOS Konzepte und Praxis 1. Berlin 2006
https://www.nakos.de/publikationen/key@100

NAKOS (Hrsg.): Gesamttreffen von Selbsthilfegruppen. Erfahrungsaustausch. Kontakt für Neue. Faltblatt. 2. überarbeitete Ausgabe. Berlin 2013 (vergriffen)