Seelische Gesundheit

Psychische Probleme nehmen seit Jahren in der Gesellschaft zu. Mindestens jeder vierte Erwachsene in Deutschland leidet innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Während der noch andauernden COVID-19-Pandemie haben sich die emotionalen und psychosozialen Belastungen in der Bevölkerung noch weiter verstärkt (vgl. Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung e.V. 2021).

Die Nachfrage von Menschen mit seelischen Problemen und Erkrankungen steigt auch bei den gut 300 Selbsthilfekontaktstellen in Deutschland stetig an. Nach Schätzungen der NAKOS gehen jährlich mindestens 75.000 Anfragen zu diesem Themenkomplex in den Selbsthilfekontaktstellen ein. Häufig genannte Diagnosen sind Depressionen, Burn-out, Ängste, Panikstörungen oder Borderline.

Besondere Anforderungen an Selbsthilfeunterstützende

Selbsthilfegruppen bei psychischen Problemen und Erkrankungen benötigen besondere Aufmerksamkeit. Die Themen und Krankheitsbilder können sehr individuelle Ausprägungen und Mischformen aufweisen, und das Krankheitserleben kann sehr unterschiedlich sein. Anfragende haben oft hohe Erwartungen an die Selbsthilfegruppe, ihre Probleme sind manchmal diffus und häufig gibt es (noch) keine ärztliche Diagnose. Manchmal empfinden sie Scham und es kostet sie große Überwindung, über ihr Thema zu sprechen.

Beim Erstkontakt von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Problemen sind deshalb einige Fragen und Aspekte in besonderer Weise zu berücksichtigen:

  • Welche Erwartungen bestehen hinsichtlich der Teilnahme an einer Gruppe?
  • Welchen konkreten Hilfebedarf gibt es und wie wird der Gesundheitszustand eingeschätzt?
  • Besteht eine aktuelle therapeutische Behandlung?
  • Klären Sie im Beratungsgespräch über die Arbeit von Selbsthilfegruppen auf und weisen Sie darauf hin, dass es keine professionelle Gruppenleitung gibt (Abgrenzung zur Gruppenpsychotherapie).
  • Die Selbsthilfekontaktstelle bietet im Gruppengründungsprozess und darüber hinaus Unterstützung an (z.B. durch Moderation in der Gründungsphase oder durch Hilfe bei Konflikten).
  • Eine Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe ist kein Therapieersatz, oft aber eine sinnvolle Ergänzung zu einer bestehenden therapeutischen Behandlung.
  • Informieren Sie über die unterschiedlichen Konzepte, die der Gruppenarbeit zu Grunde liegen können (z.B. 12-Schritte-Programm).

Im Zuge einer angestrebten Gruppengründung sind neben den bekannten Grundlagen in der Gründungsbegleitung folgende Gesichtspunkte relevant:

  • Haben Sie Geduld. Trotz großer Nachfrage, entscheiden sich meist nur wenige Betroffene, die Verantwortung für eine eigene Gruppe zu übernehmen. Immer mehr Kontaktstellen gründen und begleiten deshalb selbst Gruppen. Bis die Gruppe etabliert ist und eigenständig arbeitet, bedarf es manchmal eines langen Atems mit kontinuierlicher Begleitung.
  • Kontaktstellen laden auch zu offenen Treffs ein, weil Betroffene eine Selbsthilfegruppe als zeitlich begrenzte Unterstützung nutzen. Aus diesen offenen Treffen geht unter Umständen eine feste Gruppe hervor.
  • Ist die Gruppenfähigkeit gegeben, zum Beispiel durch die Bereitschaft der Gründungsperson/-en sich anderen mitzuteilen und Eigeninitiative zu ergreifen?

Hinsichtlich der Begleitung von Gruppen zum Thema seelische Gesundheit ist zu beachten:

  • Die Gruppenleitungstätigkeit kann einzelne Betroffene überfordern: Unterstützen Sie die Gruppe dabei, die Aufgaben auf verschiedene Schultern zu verteilen und regen Sie einen bewussten Umgang mit persönlichen Grenzen an.
  • Menschen, die in einer psychisch instabilen Phase sind, könnten die Gespräche in einer Selbsthilfegruppe zusätzlich belasten.
  • Nehmen Gruppenmitglieder nur an Treffen teil, wenn es ihnen schlecht geht, ist diese geringe Verbindlichkeit für eine kontinuierliche Gruppenarbeit schwierig.
  • Fortbildungen zu Grenzsituationen/Supervision/Intervision für Gruppenmitglieder und für Mitarbeitende sind sinnvoll (insbesondere bei Konflikten und Krisen).

Zusammenarbeit von Psychotherapie und Selbsthilfe

Die Zusammenarbeit von Selbsthilfekontaktstellen und der psychotherapeutischen Versorgung gewinnt zunehmend an Bedeutung und sollte durch den Aufbau von (regionalen) Kooperationen vorangetrieben werden. Die im Jahr 2017 geänderte Psychotherapie-Richtlinie enthält eine Weiterverweisempfehlung an Selbsthilfegruppen. Psychotherapeut*innen sind demnach aufgefordert, eine stärkere Lotsenfunktion für ihre Patient*innen zu übernehmen und weiterführende Informations- und Behandlungswege in deren Lebensumfeld aufzuzeigen (vgl. Bundespsychotherapeutenkammer 2017).

In verschiedenen Behandlungsleitlinien für psychische Erkrankungen, zum Beispiel für die Diagnosen Unipolare Depression, Bipolare Störungen oder Angststörungen, sind ebenfalls Empfehlungen zur Teilnahme an Selbsthilfegruppen enthalten (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2017; Hauth/Schneller 2016). Die Potenziale, die in den psychotherapeutischen Leitlinien Selbsthilfegruppen zugeschrieben werden, fassen Hauth/Schneller (2016) wie folgt zusammen: „emotionale Entlastung und gegenseitige emotionale Unterstützung, konkrete Lebenshilfe, Stärkung ihres Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls, Empowerment, Selbstwirksamkeitserleben, Erweiterung der Strategien im Umgang mit der Erkrankung, Förderung des Erkennens von Frühwarnzeichen, Anregung zum Aufbau beziehungsweise zur Stabilisierung des sozialen Netzes, Aufbau eines individuellen Krisennetzes und Krisenplans, positive Wirkung auf Befindlichkeit und Krankheitsverlauf (z.B. kürzere Klinikaufenthalte).“ (ebd. S. 144).

Krankheitsbilder und psychosoziale Versorgung

Facettenreich wie die menschliche Psyche sind auch deren Erkrankungen. Kenntnisse über die Erscheinungsformen psychischer Beschwerden und deren Behandlungsmöglichkeiten sind in der Beratungsarbeit von großer Bedeutung. Für Menschen mit seelischen Schwierigkeiten gibt es zahlreiche Hilfsangebote, die regional variieren können. Von der telefonischen Beratung in akuter Not bis hin zur mehrjährigen Therapie bieten psychosoziale Unterstützungseinrichtungen passgenaue Hilfen an.

Für die Arbeit in Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen gilt:

  • Machen Sie sich mit den unterschiedlichen psychischen Krankheitsbildern vertraut.
  • Erwerben Sie Kenntnisse über die verschiedenen Versorgungsformen.
  • Seien Sie gut mit den örtlichen Versorgungsangeboten vernetzt.
  • Vermitteln Sie Anfragende in akuten Krisen an regionale Kriseneinrichtungen.

Die NAKOS hat ausführliche fachliche Informationen zur Selbsthilfe-Unterstützungsarbeit für Menschen mit seelischen Erkrankungen und Problemen erarbeitet und in ihrem Wissensportal zur Verfügung gestellt.

Weiterführende Informationen finden Sie hier:

NAKOS: Basiswissen Krankheitsbilder 

NAKOS: Wegweiser Versorgung

NAKOS: Notfallwegweiser

NAKOS INFO 116: Selbsthilfe und seelische Gesundheit

Quellennachweise

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Hrsg.)Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie. Kurzfassung. 2017
https://www.leitlinien.de/themen/depression/pdf/depression-2aufl-vers1-kurz.pdf

Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung e.V. (Hrsg.): Report Psychotherapie 2021. Berlin
https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/informationen/verbandspublikationen/report-psychotherapie/

Hauth, Iris & Schneller, Carlotta: Zum Verhältnis von professioneller Versorgung und Selbsthilfegruppen bei psychischen Erkrankungen und Problemen. In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (Hrsg.), Selbsthilfegruppenjahrbuch 2016 (S. 136–149).
https://www.nakos.de/data/Fachpublikationen/2016/DAGSHG-Jahrbuch-16-Hauth-Schneller.pdf

Hundertmark-Mayser, JuttaSelbsthilfe bei psychischen Erkrankungen. Aufgaben von Selbsthilfekontaktstellen. Vortrag vom 28.04.2017 beim RoundTable Selbsthilfe und Psychotherapie.
https://www.nakos.de/data/Veranstaltungen/2017/NAKOS-RoundTable-Vortrag-Hundertmark.pdf

Hundertmark-Mayser, Jutta / Tezak, Irena: Selbsthilfe trifft Psychotherapie. In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (Hrsg.), Selbsthilfegruppenjahrbuch 2020 (S. 76–83).
https://www.dag-shg.de/data/Fachpublikationen/2020/DAGSHG-Jahrbuch-2020-Hundertmark-Tezak.pdf

NAKOS (Hrsg.): Selbsthilfe bei seelischen Erkrankungen und Problemen. Arbeitsmappe für Selbsthilfekontaktstellen. Berlin 2018