Formen von Selbsthilfegruppen

Der Begriff „Selbsthilfegruppe“ wird in der Öffentlichkeit oft ausschließlich mit Problemen oder Krankheiten und dem Austausch in einem geschlossenen Gesprächskreis assoziiert. Gemeinsame Selbstorganisation findet aber auch in anderen Formen statt, wie zum Beispiel von Arbeitskreisen bis hin zu Stammtischen.

Gemeinschaftliche Selbsthilfe kann also in ganz verschiedenen Formen erfolgen: in der klassischen Gesprächsgruppe vor Ort, in einer bundesweit tätigen Vereinigung, in einer Freizeitgruppe, einer Initiative auf Zeit oder einem Internetforum.

Definition Selbsthilfegruppe

Eine Selbsthilfegruppe ist ein Zusammenschluss von Menschen außerhalb ihrer alltäglichen Beziehungen (wie Familie oder Freundschaft), die vom gleichen Problem betroffen sind und sich regelmäßig treffen, um einander zu unterstützen. Sie können bei einer chronischen Erkrankung oder Behinderung, wie zum Beispiel bei einer Krebserkrankung oder Multipler Sklerose auf Dauer oder in einer bestimmten Lebenssituation, zum Beispiel bei Trennung / Scheidung oder einem Trauerfall, auf einen begrenzten Zeitraum angelegt sein.
Durchgeführt werden regelmäßige Gruppentreffen, die dem Austausch, der Information, der gegenseitigen Hilfe und gemeinsamen Aktivitäten dienen. Im Zentrum steht das vertrauensvolle offene Gespräch. Örtliche Selbsthilfegruppen können bei einer Selbsthilfeorganisation eingebunden oder unabhängig sein und arbeiten.

Eine ausführliche Definition hat der Fachverband Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) 1987 erstellt:

Selbsthilfegruppen sind freiwillige, meist lose Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen oder sozialen Problemen richten, von denen sie – entweder selber oder als Angehörige – betroffen sind. Sie wollen mit ihrer Arbeit keinen Gewinn erwirtschaften. Ihr Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld. In der regelmäßigen, oft wöchentlichen Gruppenarbeit betonen sie Authentizität, Gleichberechtigung, gemeinsames Gespräch und gegenseitige Hilfe. Die Gruppe ist dabei ein Mittel, die äußere (soziale, gesellschaftliche) und die innere (persönliche, seelische) Isolation aufzuheben. Die Ziele von Selbsthilfegruppen richten sich vor allem auf ihre Mitglieder und nicht auf Außenstehende; darin unterscheiden sie sich von anderen Formen des Bürgerengagements. Selbsthilfegruppen werden nicht von professionellen Helfern geleitet; manche ziehen jedoch gelegentlich Experten zu bestimmten Fragestellungen hinzu.

Wirkungsweise von Selbsthilfegruppen

In ihrer Selbsthilfegruppenarbeit befassen sich die Mitglieder mit Fragestellungen, Folgen und Problemen ihrer Erkrankung oder der Erkrankung ihrer Angehörigen. Die Gruppe hebt die Isolation der einzelnen auf und stärkt dadurch das Selbstvertrauen und die Solidarität. Durch die Regelmäßigkeit der Treffen entsteht ein stützender Zusammenhalt, der Verständnis und Trost gibt und Mut macht zu neuer Aktivität und verändertem Verhalten. Im Gespräch erfährt jede Person nicht nur seine eigene Situation neu, sondern auch die der anderen Teilnehmenden. Jede Person kann vertrauensvoll am Leid und an den Sorgen anderer Anteil nehmen, weil man diese gut kennt.
Zugleich ist man auch Vorbild für die Problembewältigung. Denn trotz Krankheit, Behinderung oder seelischer Konflikte verfügt jede Person über Bewältigungsmuster, die im Alltag verwendet werden, oft ohne sie überhaupt bewusst zu bemerken.

Die Selbsthilfegruppe macht solche konstruktiven Fähigkeiten bewusst und fördert ihre Entfaltung. Da Selbsthilfekräfte individuell unterschiedlich sind, verfügt die Gruppe über unterschiedliche Herangehensweisen, mit Schwierigkeiten und Problemen fertig zu werden. Aufgrund des gesammelten Erfahrungswissens und ihrer Betroffenenkompetenz entwickeln die Mitglieder der Gruppe Handlungskompetenzen im Umgang mit dem Versorgungssystem und Selbstmanagementfähigkeiten im Umgang mit Beeinträchtigungen, Behinderungen und Belastungen. Das Geschehen in einer Selbsthilfegruppe ist ein Prozess zunehmender Selbstentwicklung.

Gründe für die Gruppenteilnahme

Die wesentlichen Gründe, in Selbsthilfegruppen aktiv zu werden, sind Selbstbetroffenheit, Versorgungsdefizite, Aufhebung von Isolation, Hilfe für sich und andere, gesellschaftliche Verbesserungen im Zusammenhang mit der Problemstellung. Bei der Problembearbeitung und -bewältigung spielen die verschiedensten Aspekte eine Rolle, z.B. die Gegebenheiten der gesundheitlichen und sozialen Versorgung, die Situation in der Familie, die Auswirkungen auf Arbeit und Freizeit, Schule und Ausbildung oder die Einschränkungen sozialer Kontakte und der Mobilität.

Die (phasenweise) unterschiedlichen Inhalte und Ziele der Gruppenarbeit spiegeln sich in verschiedenen Handlungsfeldern wider.
Wesentlich sind:

  • Hilfe und Unterstützung füreinander: Selbsthilfegruppe im engeren Sinne des Wortes
  • Hilfe und Unterstützung für andere Gleichbetroffene: Helfergruppe
  • Erfahrungs- und Wissensaustausch: Lerngruppe
  • Zusammengehörigkeit, Geselligkeit und gemeinsame Aktivität: Freizeit- und Initiativgruppe
  • Öffentlichkeitsarbeit, Interessenvertretung, gesellschaftliche Einflussnahme: Lobbygruppe.

Beweggründe

Im Einzelnen sind die Beweggründe für den Aufbau oder die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe ganz unterschiedlich. Immer wieder aber sind drei zu finden:

Erstens „Leidensdruck“
Das heißt, die Betroffenen nehmen selber wahr, dass sie in eine schwierige Situation geraten sind, die ihr bisheriges Leben in Frage stellt. Sie sind damit konfrontiert, dass sie plötzlich krank geworden oder seelisch in ein tiefes Loch gefallen sind, dass sich in Partnerschaft und Familie, in der Nachbarschaft, am Ausbildungs- und Arbeitsplatz vieles verändert hat. Sie stellen für sich fest, dass es nicht so weitergehen kann wie früher und weitergehen soll wie jetzt, es muss etwas passieren. Auf einmal muss man sich und will man sich nach Trost und Halt, Hilfe und Unterstützung umsehen, bei Freunden und Verwandten, bei Fachleuten – und vielleicht eben auch in einer Selbsthilfegruppe.
Vielen Menschen fällt es sehr schwer, eigenes Leiden und eigene Probleme zunächst vor sich selber und dann auch vor anderen einzugestehen. Leben wir doch in einer Gesellschaft, die Jugendlichkeit und Gesundheit, Tüchtigkeit und Erfolg, Durchsetzungs- und Konkurrenzfähigkeit sehr hoch bewertet und Problemlosigkeit das ist, was zählt. Und nun soll man Hilfsbedürftigkeit oder Hilflosigkeit, Unsicherheit oder fehlende Orientierung eingestehen. Der „Leidensdruck“ ist ein wichtiger Motor, Hürden zu überwinden und sich anderen zu öffnen.

Zweitens „Prinzip Hoffnung“
Das heißt, dass Menschen die Hoffnung haben, dass etwas zu machen ist – im Unterschied zu Verzweiflung, Resignation, Aufgabe. Und dass sie die Hoffnung haben, selbst etwas zur Bewältigung oder Lösung des Problems und zur Besserung ihrer Lebenssituation beitragen und ihre persönliche Entwicklung in die Hand nehmen zu können – im Unterschied zur Übergabe der Verantwortung an professionelle Hilfesysteme, zum Beispiel an Medizin und Psychotherapie, an pädagogische Einrichtungen und Sozialarbeit.

Drittens „Begegnung und Austausch“
Betroffene suchen bei Gleichbetroffenen Verständnis für ihre Problematik und wünschen sich Solidarität bei der Bewältigung und bei Schritten zur Veränderung. Sie suchen Begegnung und Austausch mit anderen, die gleich oder ähnlich betroffen sind, denen sie nichts vormachen müssen, mit denen sie aktiv werden und gemeinsam Anliegen voranbringen können.

Ob jemand dazu in der Lage ist, eigenes Leiden zu spüren, Hoffnung aufzubringen, selbst aktiv zu werden und Begegnung und Austausch zu suchen, hängt sicher von der eigenen Persönlichkeit ab, von der individuellen Lebensgeschichte, von bisherigen Erfahrungen mit hilfreichen Beziehungen zu anderen und von der derzeitigen sozialen Umgebung.

Typen von Gesprächsselbsthilfegruppen

Viele Selbsthilfegruppen finden sich in Form von Gesprächsgruppen zusammen. Sie können gemäß ihrer Organisationsform unterteilt werden in:

  • Anonymousgruppen
  • Selbsthilfeorganisationen
  • Gesprächsselbsthilfegruppen

Eine besondere Form von Selbsthilfegruppen sind die so genannten Anonymousgruppen wie zum Beispiel die Anonymen Alkoholiker.
Anonymousgruppen verstehen sich als überparteiliche und überkonfessionelle Gemeinschaften von Frauen und Männern zur gemeinsamen Problemlösung. Gruppentreffen (Meetings) finden regelmäßig statt, der Zugang ist frei, zum Beispiel auch in einer anderen Stadt. Die Gruppenmitglieder reden sich mit Vornamen an und bleiben ansonsten anonym. Anonymousgruppen orientieren sich an den Empfehlungen eines gemeinsamen Programms (Zwölf-Schritte-Programm).

Selbsthilfeorganisationen sind in der Regel verbandlich verfasste Organisationen von überwiegend oder ausschließlich natürlichen Personen auf Bundesebene, gegebenenfalls mit Untergliederungen oder stellvertretenden Einzelpersonen auf Landes-, Regional- oder Ortsebene. Selbsthilfeorganisationen arbeiten in der Regel zu einem (manchmal auch mehreren) spezifischen Themen oder Anliegen.

Zur dritten Gruppe der Gesprächsselbsthilfegruppen zählen die zahlreichen kleineren Selbsthilfegruppen vor Ort, in denen sich Menschen zusammenfinden, die an einer bestimmten Erkrankung leiden oder durch ein gemeinsames Problem verbunden sind. Häufig geht es um psychische Störungen bzw. psychosoziale Problemlagen. Sie sind in der Regel „autonom“, in der Regel nicht verbandlich organisiert, und können auf „Vereinsmeierei“ meist verzichten. Gruppen für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind oft an Diagnosen angelehnt (Depressionen, Angststörungen). Es finden sich aber auch Gruppen, die auf den ersten Blick keine diagnosebezogene Zuordnung erkennen lassen und themenübergreifend arbeiten („Besser leben lernen“ oder „Neue Wege gehen“) (Matzat 2019).

Quellennachweise

DAG SHG – Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (Hrsg.): Selbsthilfegruppen-Unterstützung. Ein Orientierungsrahmen. Gießen 1987

Matzat, Jürgen: Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen für Menschen mit psychischen Störungen – „das Gießener-Modell“. In: Selbsthilfe-Büro Niedersachsen (Hrsg.): Selbsthilfe stärkt die Seele. Selbsthilfe-Unterstützung für Menschenmit psychischen Erkrankungen und Problemen. Projektdokumentation und Arbeitshilfe. Hannover 2019, S. 38-47
https://www.selbsthilfe-buero.de/index.php?id=595

NAKOS (Hrsg.); Beier, Niclas / Hundertmark-Mayser, Jutta: Arbeitsmappe Arbeiten in Selbsthilfekontaktstellen. Berlin 2018

nakos.de: Anonyme Gruppe. Lexikon-Eintrag.
https://www.nakos.de/informationen/lexikon/key@5349

nakos.de: Selbsthilfeorganisation. Lexikon-Eintrag.
https://www.nakos.de/informationen/lexikon/key@5277