Geschichtliche Entwicklung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe

Gemeinschaftliche Selbsthilfe gehört in unserer Gesellschaft zur traditionellen Bewältigungsform von Krankheit, Behinderung und psycho-sozialen Problemen. Die Entwicklung von organisierter Selbsthilfe reicht zurück bis in die Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft und kann historisch gesehen entlang von drei Phasen unterschieden werden:

Die „sozialökonomische Selbsthilfe” wurde durch die materielle und existentielle Notlage in den Anfängen der Industriegesellschaft hervorgerufen, die zu einer weit reichenden Auflösung von traditionellen Gemeinschaftsbindungen führte. Menschen organisierten sich in Hilfsvereinen karitativer Art, die sich später zu Wohlfahrtsverbänden organisierten. Auch die Anfänge wirtschaftlicher und politisch-arbeitsweltlicher solidarischer Hilfssysteme wie Genossenschaften und Gewerkschaften nahmen in dieser Zeit ihren Anfang.

Während der Zeit der Weimarer Republik schritt der Aufbau einer so genannten „sozialpolitischen Selbsthilfe” voran. Deren stärkste Vertreter waren die Interessensverbände der Kriegsversehrten aus dem ersten Weltkrieg, wie zum Beispiel der Blindenbund.

Die Begründung der modernen Selbsthilfe bzw. Selbsthilfeunterstützung resultiert aus der Kritik der Bürger*innen an der Unangemessenheit der sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen, an einer veränderte sozialkulturelle Werteorientierung in Richtung Individualisierung und Emanzipationsbestrebung (zum Beispiel vom vorherrschenden Medizinsystem). Betroffene schlossen sich zusammen in lokalen Selbsthilfegruppen zu Gesprächs- und Handlungsgemeinschaften von Frauen, Körperbehinderten, chronisch Kranken und deren Angehörigen.

Heute sind Selbsthilfegruppen überall in Deutschland und zu sehr vielen Krankheiten und Anliegen aktiv.

Die nachfolgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der Selbsthilfe in Deutschland:

Die Entwicklung der Selbsthilfe wird anhand eines Zeitstrahls dargestellt und reicht bis zum Jahr 2021. Es sind oberhalb die Gründungsjahre wichtiger Selbsthilfeorganisationen vermerkt. Unterhalb des Zeitstrahls stehen die Einrichtungen der DAG SHG.

Grafik: NAKOS 2021

Die Anfänge

Die ersten Selbsthilfezusammenschlüsse gründeten sich im vorletzten Jahrhundert: 1848 etwa entstand der Taubstummen-Verein Berlin, 1885 das Blaue Kreuz in Deutschland, 1897 der Deutsche Allergie- und Asthmabund. Auch die Geschichte der Kranken-, Unfall- und Alterssicherung lässt sich als gemeinschaftliche Selbsthilfe zum Schutz gegen die wirtschaftlichen Folgen von Arbeitsunfähigkeit interpretieren. Nach dem ersten und zweiten Weltkrieg entstanden Vereine für Kriegsversehrte und ihre Angehörigen, um sich gegenseitig zu unterstützen und die materielle Not zu lindern.

Seit den 1950er Jahren entwickelte sich die gemeinschaftliche Selbsthilfe zu einer wichtigen Ergänzung der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland. Zunehmend wurden Leistungsmängel im System der Gesundheitsversorgung thematisiert und seit Mitte der 1970er Jahre die Dominanz der Anbieter professioneller gesundheitsbezogener Dienstleistungen („Götter in weiß“) kritisiert. Lag der Schwerpunkt bei der Entwicklung der Selbsthilfe zunächst stark auf den Problemlagen körperlicher und kognitiver bzw. geistiger Behinderung sowie Alkoholsucht, sind ab den 1970er-Jahren psychologisch-therapeutische und psychosoziale Problemlagen hinzugekommen.

Der Aufschwung

Seit den 1970er und besonders seit den 1980er Jahren erfuhr die gemeinschaftliche Selbsthilfe einen enormen Aufschwung. Das resultiert daraus, dass zum einen etwa ein Viertel der bestehenden Bundesvereinigungen der Selbsthilfe in den 1980er Jahren und fast 40 Prozent in den 1990er Jahren gegründet wurden. Zum anderen entstanden zur gleichen Zeit örtliche Selbsthilfekontaktstellen als professionelle Einrichtungen zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen.

Ebenfalls in den 1990er Jahren trat verstärkt die Gründung von Betroffenenorganisationen ein, insbesondere bei seltenen Erkrankungen, die heute unter dem Dach des Kindernetzwerk e.V. für Kinder, Jugendliche und (junge) Erwachsene mit chronischen Krankheiten und Behinderungen (gegründet 1992) sowie der Allianz chronischer seltener Erkrankungen (ACHSE) (gegründet 2005) organisiert sind.

Etablierung der Selbsthilfekontaktstellen

Die Entstehung von Selbsthilfekontaktstellen in den 1980er und 1990er Jahren wurde unter anderem durch zwei Bundesmodellprogramme unterstützt. Die erste Selbsthilfekontaktstelle wurde 1977 in Gießen aufgebaut, die bis heute aktiv und deutschlandweit bekannt ist. 1984 wurde die Nationale Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe, kurz genannt NAKOS, als bundesweite Selbsthilfekontaktstelle und Facheinrichtung zur Selbsthilfe gegründet. Eine besondere Rolle bei dieser Entwicklung spielten entsprechende Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation in der Ottawa-Charta von 1986.

Die Idee der Einrichtung von Selbsthilfeinformations- und Kontaktstellen wurde von der WHO entwickelt („clearing houses for self-help“) und durch verschiedene nationale Erfahrungen geprägt und umfassend zwischen Experten diskutiert. Im Abschlussdokument zur 1. Konferenz der Weltgesundheitsorganisationen, der Ottawa-Charta von 1986, wurden unterschiedliche Strategien zur Förderung von Gesundheitsaufklärung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsberatung und eben auch der Gesundheitsselbsthilfe beschrieben. Ihr gesundheitspolitisches Leitbild wird auch als Paradigmenwechsel von der Verhütung von Krankheiten zur Förderung von Gesundheit beschrieben. Eine ihrer Handlungsstrategien lautet „Befähigen und Ermöglichen“ (Empowerment).
Der Ansatz der Selbsthilfeunterstützung durch spezielle Selbsthilfekontaktstellen vor Ort wurde von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V (DAG SHG) entwickelt, die die institutionellen und fachlichen Standards für diese Einrichtungen definierte. Vorbild hierfür waren Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. In den 1980 und 1990er Jahren begleitete die DAG SHG zwei Bundesmodellprogramme zur Förderung von Selbsthilfekontaktstellen, die deren Bedeutung für die Verbreitung und Arbeit von Selbsthilfegruppen wissenschaftlich belegte: Wo Selbsthilfekontaktstellen tätig sind, gründen sich mehr Selbsthilfegruppen. Im Zuge der Modellprogramme stieg die Zahl der Selbsthilfekontaktstellen im Bundesgebiet von 93 auf 213. Heute existieren rund 300 Einrichtungen der professionellen Selbsthilfeunterstützung an nahezu 350 Orten.

Seit den 1990er Jahren kamen landesweite Selbsthilfekontaktstellen hinzu, die mittlerweile in sieben Bundesländern etabliert sind. Landesweite Selbsthilfekontaktstellen oder -koordinierungsstellen sind Fachstellen zur Selbsthilfeunterstützung in einem Bundesland.

Inzwischen wird in zwei Drittel aller Landkreise und kreisfreien Städte die gemeinschaftliche Selbsthilfe durch Selbsthilfekontaktstellen professionell unterstützt. Es gibt also noch weiße Flecken.

Durch die Modellprojekte wurde bundesweit eine Wende eingeleitet, so dass Fachleute in den Krankenkassen, der Politik und Verwaltung das ehrenamtliche Potenzial und die Innovationskraft endlich zur Kenntnis nahmen und Selbsthilfe im Gesetzestext des § 20 SGB V erstmals 1992 eine öffentliche Anerkennung erfuhr. Doch erst die „Gesundheitsreform 2000” hat Nachhaltiges bewirkt, nämlich dass durch den § 20 SGB V zumindest die gesundheitsbezogene Selbsthilfeförderung zu einer verpflichtenden Aufgabe für die gesetzlichen Krankenkassen wurde.

Ausblick – Das Arbeitsfeld der Selbsthilfeunterstützungsarbeit verändert sich

Junge Selbsthilfe
In den letzten Jahren gewann das Thema „Junge Selbsthilfe“ an Bedeutung. Einerseits, weil Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen teilweise Schwierigkeiten haben, neue, jüngere Teilnehmende zu finden. Andererseits, weil junge Menschen oft andere Formen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe wollen als die klassische Gesprächsgruppe im Stuhlkreis. Sie entwickeln neue Formen der Problembewältigung und tauschen sich vermehrter digital aus.

Große Einzugsgebiete und Strukturen im ländlichen Raum
Die Verbreitung von Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen ist in Städten und in ländlichen Gebieten sehr unterschiedlich geregelt. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. spricht sich dafür aus, dass es pro Stadt oder Landkreis nur eine Selbsthilfekontaktstelle gibt. Ein solche Bündelung ist inhaltlich sinnvoll, aber auch mit zum Teil sehr großen Einzugsgebieten verbunden.

Verschiebung der Aufgaben und Aufgabenzuwachs
Des Weiteren hat sich das Aufgabenspektrum in der Selbsthilfeunterstützung in den letzten Jahren verändert und neue Arbeitsfelder sind hinzugekommen. Das betrifft vor allem:

  • Die Beratung Einzelner ist komplexer geworden, das Klärungsgespräch mit den Hilfesuchenden, ob gemeinschaftliche Selbsthilfe oder professionelle Hilfe oder beides gewählt werden sollte, dauert länger.
  • Die Vertretung der Selbsthilfe in Gremien und Arbeitskreisen nimmt zu.
  • Die Durchführung zeitlich begrenzter Projekte hat Einzug erhalten, wodurch sich der Planungs- und Umsetzungsdruck erhöht.
  • Es werden mehr themenspezifische Angebote (z.B. zu Depression, Ängste und sozialer Isolation oder Demenz und Pflege) und zielgruppenspezifische Angebote (z.B. für junge Menschen oder Geflüchtete) entwickelt. Hierfür müssen gegebenenfalls eigene Materialien erstellt oder Sprechzeiten eingerichtet werden.
  • Der Aufwand für Dokumentation und Qualitätsentwicklung nimmt zu.
  • In der Selbsthilfe findet ein Generationswechsel statt, die so genannte Pioniergeneration beendet ihre Tätigkeit, eine veränderte Fortführung der Arbeit muss bewältigt werden.

Intensivierte und verbreitete Kooperationen und neue Kooperationsbedarfe
Das Spektrum der Kooperationspartner und Multiplikatoren von Selbsthilfekontaktstellen ist weitergewachsen, und die Zusammenarbeit wird zunehmend formalisiert. Selbsthilfekontaktstellen haben im Laufe des letzten Jahrzehnts vertragliche Kooperationen mit Krankenhäusern abgeschlossen, sind im Gesunde Städte Netzwerk involviert, wirken mit bei Bündnissen gegen Depression, beim Netzwerk Demenz und anderen örtlichen Netzwerken.

Vermehrte Mitsprache durch strukturierte Beteiligungsrechte
Die Möglichkeiten zur Mitsprache im Gesundheitswesen sind seit 2004 und mit der Einführung der strukturierten Patientenbeteiligung gesetzlich geregelt. Ebenso bieten die Regelungen für die Förderung der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe durch die gesetzlichen Krankenkassen Mitwirkungsmöglichkeiten. Zwei Drittel der Einrichtungen zur Selbsthilfeunterstützung ist bei der Vergabe der Krankenkassen-Fördermittel beteiligt, ein Zehntel wirkt in Gremien zur Patientenbeteiligung mit. Beide Aufgabenfelder sind zu den Kernaufgaben hinzugetreten.

Ausblick
In den kommenden Jahren werden noch weitere Entwicklungen zu Veränderungen in der Arbeit der Selbsthilfekontaktstellen führen. Einige weitere sind beispielsweise:

  • veränderte (digitale) Austauschformate und Unterstützungsformen durch die COVID-19-Pandemie
  • verändertes Gruppenleben, Gruppensterben als Resultat der COVID-19-Pandemie
  • Gesundheitskompetenz der Betroffenen fördern, Wissen generieren und vermitteln
  • Formate zur Einbringung von Betroffenenkompetenz etablieren

Auf der Seite Entwicklungsfelder werden aktuelle Herausforderungen für die Selbsthilfe-Unterstützungsarbeit aufgrund von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen beschrieben.

Quellennachweise

NAKOS (Hrsg.): Selbsthilfe unterstützen. Fachliche Grundlagen für die Arbeit in Selbsthilfekontaktstellen und anderen Unterstützungseinrichtungen. NAKOS Konzepte und Praxis 1. Berlin 2006
https://www.nakos.de/publikationen/key@100

NAKOS (Hrsg.): Zahlen und Fakten 2019. NAKOS STUDIEN, Selbsthilfe im Überblick 6. 6. Ausgabe. Berlin 2020
https://www.nakos.de/publikationen/key@7622

NAKOS (Hrsg.); Beier, Niclas / Hundertmark-Mayser, Jutta: Arbeitsmappe Arbeiten in Selbsthilfekontaktstellen. Berlin 2018